Warschauer Brücke
Die Warschauer Brücke in Friedrichshain ist eigentlich keine besondere Brücke: Eine lange schmucklose Straßenbrücke. Ca. 1 km östlich des Ostbahnhofs führt sie über diverse Bahngleise. Angedockt an die Brücke sind S-Bahn, U-Bahn und ein Shoppingcenter – rund um die Brücke also ein komplizierter städtischer Knoten.
Was die Brücke allerdings bietet, ist eine grandiose Aussicht auf die Skyline Berlins – und das neue höchste Hochhaus Berlins, direkt an der Brücke – nicht gerade unumstritten.
Aber darum soll es jetzt nicht gehen. Es geht um das Leben auf, unter und um die Brücke herum. Hier spüre ich Berlin, wie ich es liebe.
Wenn ich mal Berlin für eine Weile verlasse und dann irgendwann wieder zurückkomme, lande ich nicht selten am S-Bahnhof Warschauer Straße – an der Warschauer Brücke. Denn hier im Umfeld wohne ich.
Wenn ich mich also nach einer Zeit der Berlin-Abstinenz wieder auf die Rückreise in meine Stadt begebe, bin ich gedanklich oft noch in der Welt, wo ich herkomme. Wenn ich dann aber nach langer Bahnfahrt am S-Bahnhof Warschauer Straße ankomme und aussteige, weiß ich, ich bin wieder zu Hause. Ich bin wieder „in meinem Revier“. Ich werde überflutet vom urbanem Leben. Ja, hier ist mein Berlin. Chaotisch, wild und frech – wie ich es liebe.
Hier steigen in der Regel Massen von Menschen aus. Überwiegend junge Leute, abends oft gut gelaunt und übermütig, ausgelassen und in Feierlaune, nicht selten alkoholisiert oder anderweitig ge-doped. Ein vielfältiges Potpouri an Menschen. Ich genieße es, diese Vielfalt zu erleben. Ich freue mich über die Wildheit und den Flow, der von ihnen ausgeht. Mit all diesen Menschen erklimme ich die Treppen. Oben in der Bahnhofshalle meist wieder ein quirliges Treiben. Manchmal spielt spontan eine Band. Menschen tanzen. Andere schauen zu oder essen Snacks. Krasse Leute stehen rum und warten auf andere krasse Leute. Ich lustwandele hinaus, über einen Steg auf die eigentliche Brücke, nordwärts in Richtung Boxhagener Kiez. Nie bin ich hier allein unterwegs. Überall Ströme von Menschen. Außer vielleicht sonntags früh um 10 (oder zu Corona-Zeiten). Abends aber viele Party-People. Auffällige Menschen. Coole Styles. Ich lasse mich treiben. Ich schaue mich um, freue mich an den Menschen. Manchen sieht man an, dass sie der Electro-Szene nahestehen und wohl ins „Berghain“ wollen, daneben Leute mit Skateboard, andere sind eher ballermann-mäßig drauf, singen, grölen und genießen das wilde Leben. Dazwischen Schülergruppen. Außerdem unauffällige Touristen, die sich das verrückte Leben hier einfach mal ansehen wollen.
Andere genießen es, gesellschaftliche Konventionen über Bord zu werfen und mal „die Sau rauszulassen“. Einst berühmt die „Wall of Piss“. Überall wilde Plakate, Müll und Graffiti. Manche haben gar riesige Bluetooth-Partyboxen dabei und machen auf der Straße oder vor „Party-REWE“ ihre dezibel-intensive Spontan-Party. Dazwischen Bettler, Wohnungslose, Drogen-Dealer. Ich mag diese Fülle. Ja, das ist mein Berlin. Streetlife. Öffentlicher Raum. Ich liebe es. Ich feiere es.
Etliche meiner Freunde können diese meine Liebe nicht verstehen. Manche finden das Party-Chaos nervig. Sie meiden die Brücke. Ich aber freue mich, hier im Umfeld zu leben. Ich glaube, eine Stadt – eine Gesellschaft – braucht Rituale und Orte der Ausgelassenheit, Ekstase und Grenzüberschreitung, damit ansonsten das zivilisierte Leben gelingt. Meine These.
Leider ist das wilde Chaos bedroht: Amazon bezieht den Riesen-Tower an der Brücke, das Mercedes-Areal hat längst ein ehemaliges Clubareal verdrängt. Ähnliches wird auf dem „RAW-Gelände“ befürchtet und Party-REWE muss schließen. Aber noch tobt hier das wilde Leben.
Sören Hühnlein, 2023
