Paternoster fahren
Meine Leidenschaft im Haus des Rundfunks
Als ich nach meinem Lieblingsplatz gefragt wurde, war meine Gegenfrage: drinnen oder draußen?
Draußen kann ich X-Lieblingsplätze aufzählen, die beiden kleinen indischen Tempel auf dem Hinterhof gleich nebenan zum Beispiel oder der verwunschene Park zwischen Luisen- und Friedrichstraße oder die Gestaltung des Zwischengeschosses im U-Bahnhof Klosterstraße, der fast genauso aussieht wie das berühmte Ischtar-Tor im Berliner Pergamon-Museum.
Ganz oben auf der Liste der „Drinnen-Lieblingsplätze“ steht ein technisches Denkmal: Die Paternoster im Haus des Rundfunks. Davon gibt es im alten Funkhaus an der Masurenallee übrigens zwei.
Ein kleines Wunderwerk an Ketten
1931, als das Haus des Rundfunks mit den berühmten Worten: „Das Schiff ist klar zur Fahrt“ eröffnet wurde, gingen auch die Paternoster in Betrieb. Eigentlich heißen sie Personen-Umlaufaufzüge, schlichte Holzkabinen, die auf der einen Seite hoch, auf der anderen Seite runter fahren, ohne anzuhalten. Wie sie funktionieren, ist einfach zu erklären: die Kabinen sind an Ketten hängend befestigt. Oben und unten, im Dach- und im Kellergeschoss, werden sie über große Scheiben in den anderen Aufzugsschacht umgesetzt.
Nur zwei Personen pro Kabine, die Fahrt durch den Keller und Bodenbereich ist ungefährlich – liest man auf dem Messingschild. Manchmal fahren wir zu dritt, manchmal steigen wir nicht aus. Schummrig wird es oben und unten, bitte treten sie zurück. Es ruckt und knackt und wackelt.
Wie einsteigen in den Paternoster? Ich sage nur: abwarten bis die Holzkabine 5 Zentimeter über dem Fußboden ist und dann rein mit Schwung. Wieder ruckt und knackt und wackelt es. Raus geht es genauso, nur eben andersherum.
„Vater unser“ bis in den 4. Stock
Ich fahre Paternoster, das klingt besser als: ich fahre mit dem Personen-Umlaufaufzug. Das haben sich die Erfinder der fahrenden Holzkabinen sicher auch gedacht, obwohl die Geschichte warum der Paternoster so heißt wie er heißt, einiges mit der katholischen Kirche zu tun hat, nämlich mit dem Rosenkranz beten. Auf zehn kleinere Kugeln für die Ave Marias folgen eine für das Vaterunser – lateinisch Paternoster. „Paternosterschnur“ hat man den Rosenkranz auch mal genannt und darüber hinaus nennt man die elfte Kugel, entsprechend dem dazugehörigen Gebet: Paternoster.
Personen-Umlaufaufzüge = Rosenkranz = Amen.
Ein Bau der Klassischen Moderne
Das Haus des Rundfunks wurde 1958 – 27 Jahre nach seiner Einweihung – in die Liste der Baudenkmäler Berlins aufgenommen. Mit gutem Grund. Der Gebäudekomplex war zur Zeit seiner Erbauung ein Meilenstein in der Geschichte der Rundfunkhäuser. In seiner Größe und Funktionalität war und ist es übrigens einzigartig in Europa.
Entworfen hat es ein Vertreter der Klassischen Moderne, der Architekt Hans Poelzig. Er wollte „einen Kontrapunkt zu der Uneinheitlichkeit und Zerrissenheit der gesamten Umgebung setzen“ – zum benachbarten Neu-Westend und seinen herrschaftlichen Villen. Der Funkturm stand schon, als die Bauarbeiten an der Masurenallee begannen.
Poelzigs Idee: drei Sendesäle wurden in der Gebäudemitte platziert, vom Straßenlärm abgeschirmt durch die umliegenden Bürotrakte und Produktionsstudios. Ideale Bedingungen für die Radiomacher herrschten schon damals 1931.
156 Meter lang ist die Hauptfront des Funkhauses. Zwei Flügel schwingen leicht nach hinten, bilden ein stumpfes Dreieck und von oben betrachtet sieht das Haus des Rundfunks tatsächlich aus wie der Bug eines Schiffes.
Paternoster fahren – eine Leidenschaft
Ich bin Urberlinerin, bin in Berlin-Charlottenburg aufgewachsen, gleich hinter dem Funkhaus des Senders Freies Berlin, dem heutigen Rundfunk Berlin-Brandenburg, habe beim Paternosterfahren in frühester Kindheit den Wunsch gehabt „einmal zum Radio zu gehen“ und nach einigen beruflichen Umwegen auch das Ziel erreicht „im Radio zu sein“, um über Kunst, Bücher, Filme – also über Kultur – zu reden.
Ganz ehrlich, die Paternoster im Haus des Rundfunks sind wahre Kreativ-Orte. Ziemlich gute Ideen bekommt man zwischen Keller- und Obergeschoß.
Einmal rum, ohne anhalten.
Marianne Mielke