Kapelle der Versöhnung
Mitten im ehemaligen Mauerstreifen, mitten in der Gedenklandschaft an der Bernauer Straße steht eine kleine Kapelle. Schlicht und puristisch. Die Kapelle der Versöhnung. Schon der Name klingt in meinen Ohren wie eine Verheißung: Kapelle der Versöhnung. Versöhnung ist etwas großartiges. Ich sehne mich nach Versöhnung.
Seit 2011 / 12 erfasste mich eine vorher nicht gekannte Sehnsucht nach Gott. Gibt es ihn? Mich fasziniert die christliche Botschaft. Versöhnung ist dabei für mich eines der wundervollsten Elemente dieser Botschaft. Versöhnung kann man nicht machen und nicht erzwingen. Versöhnung ist ein Geschenk. Sie kann keimen und wachsen.
Ich denke an die KZ-Überlebende Corrie ten Boom und ihre große Leidenschaft für Vergebung und Versöhnung. Corrie und Betsie ten Boom, Schwestern, überzeugte Christinnen und Judenfreundinnen verstecken in der NS-Zeit Juden. Die Schwestern landen im KZ Ravensbrück. In der Atmosphäre von Hass, Verachtung, Härte und Gewalt wächst die Überzeugung, dass nur Liebe, Vergebung und Versöhnung Wunden und Verrohung langsam heilen kann. Betsie überlebt Ravensbrück nicht, Corrie wird entlassen. Sie wird zur leidenschaftlichen Botschafterin für Versöhnung und einen Gott, der Liebe ist. Sie reist um die ganze Erde, um von Ihren Erfahrungen zu erzählen. Ihre Geschichte beflügelt mich immer wieder.
Ja, Versöhnung brauchen wir. Im privaten Umfeld. Zwischen verfeindeten Lagern der Gesellschaft. Zwischen kriegsführenden Staaten. Möge die Kapelle der Versöhnung ein Ort sein, wo Versöhnung gelingt.
Ein Ort der Versöhnung - ausgerechnet hier, wo einst über 40 Jahre zwei Systeme unversöhnlich aufeinanderstießen. Zufälliger Weise stand genau hier - lange vor dem Mauerbau - schon seit wilhelminischer Zeit eine imposante Kirche mit hohem Turm. Ihr Name: Versöhnungskirche. Ausgerechnet hier der Name Versöhnung. Später stand und störte sie im Mauerstreifen. Die Bilder ihrer Sprengung 1985 gingen um die Welt.Heute steht hier ein ganz anderer Kirchbau. Ohne dominanten Turm. Ohne auftrumpfende Geste. Ohne Pracht und Reichtum. Ein bescheidenes elliptisches Objekt, minimalistisch, frei stehend im Raum. Innen ein karger, bergender und weitgehend leerer Raum, von einer ovalen massiven Lehmwand umfasst. Außenrum ein zweiter elliptischer Ring aus Holzlamellen, die wie ein leichter halbdurchsichtiger Schleier die Grenze zwischen Innen und Außen zwar markieren, aber doch durchlässig lassen. Zwischen beiden Hüllen verläuft ein Wandelgang, eine Art Kreuzgang. Separat der Glockenstuhl.
Alles ist schlicht. Alles ist pures Material. Purer Lehm, pures Holz. Eine Kirche für unsere Zeit. So wünsche ich mir Kirche heute. Ich wünsche mir eine Kirche ohne Macht, dafür mit Leidenschaft für die Sache, für alle Menschen und vor allem für ihren Gott. Den Gott der Liebe und Versöhnung.
Sören Hühnlein, 2024