Graffiti-Rausch am Nordring
Wer per S-Bahn durch Berlin fährt, sieht die Stadt oft anders als aus der Straßenperspektive. Häufig zeigt sich die Rückseite der Stadt: Nackte Brandwände und Hinterhäuser, Brachflächen und Lagerschuppen, Brückenpfeiler und Stützwände.
Und man sieht jede Menge Graffiti (und andere Formen von Streetart). Das Spektrum reicht von einfachen Tags (Namen / Signaturen mit einer Linie) bis zu riesigen virtuosen Pieces (aufwändigere Werke), die neben Schrift oft auch bildliche und/oder grafisch-abstrakte Elemente aufweisen.
Mich interessieren dabei weniger die einzelnen Tags oder Pieces und deren Virtuosität. Mich faszinieren Dynamik und Fülle. Mich interessiert, was da insgesamt in der Stadtlandschaft passiert. Mich begeistert das Gesamtkunstwerk Graffiti. Graffiti – als sich ständig wandelnder Organismus riesigen Ausmaßes, der sich aus unzähligen Tags und Pieces jeden Tag anders zusammensetzt. Und wie eine Krake alles verschlingt. Ein Verschlungen-Werden.
Tauchen Sie ein in diesen Rausch von Formen, Farben und Schriften. Lassen Sie sich betören. Fahren Sie einfach mal mit der Ringbahn z.B. zwischen Treptower Park und Westhafen. Ein Hotspot ist der Bereich Nordkreuz zwischen Schönhauser Allee und Gesundbrunnen, aber auch die anderen Bereiche lohnen.
Hier wimmelt es von Graffiti. Ein großer Teil der Wände entlang der Bahntrasse sind überzogen von dieser wilden anarchischen Kunst. Immer wieder entsteht Neues, immer wieder verändert sich dieses Farben- und Schriften-Meer. Immer wieder werden die Wände neu überwuchert. Neues lässt Altes verschwinden. Schicht über Schicht. Eine zweite Haut auf der Kubatur der Stadt.
Im zügigen Vorbeifahren kann das Flirren der Farben auch Züge eines impressionistischen Kunstwerks bekommen. Schaut man nicht auf die einzelnen Schriftzüge, Bilder, etc., sondern lässt sich von der Fülle einfach umspülen, so erlebt man eine wilde expressive Kraft. Da sehe ich Parallelen zu abstraktem Expressionismus – auch zu Action-Painting. Ich denke an Jackson Pollocks Live-Mal-Performances – Kunst als Prozess des Werdens und des Vergehens. Ich denke auch an barocke Gemälde, die den ganzen Raum verschlingen, auflösen und zum Tanzen bringen.
Für mich ist Graffiti und Street-Art aber auch politisches Statement. Ich halte das alles für Partizipatorische Kunst. „Wem gehört die Stadt?“ fragt so mancher in Zeiten explodierender Mieten, der Privatisierung Öffentlicher Räume und manchem Rückzug ins Private.
Wem gehört die Stadt? „Uns allen“ möchte ich rufen, wenn ich an Graffiti denke. Jeder kann mitmachen. Auch die, die sonst keine Chance haben, sich zu zeigen. Jeder kann seine Spuren hinterlassen. Naja, jeder könnte, wenn das Ganze nicht immer noch illegal wäre. Ich träume davon, dass die Oberfläche der Stadt oder manche Bereiche freigegeben werden für alle. Ich träume davon, dass die Wände zur Pinnwand und kollektiven Leinwand aller werden. Wir alle können Teil werden: Unsere Namen an die Wand schreiben, unsere Botschaften hinterlassen, uns künstlerisch ausdrücken. Tätowierte Stadt.
In einer Stadt wie Berlin, wo die allermeisten zur Miete wohnen, können die meisten nicht entscheiden, wie ihr Wohnhaus, ihre Stadt aussieht. Das können nur Architekten, Hauseigentümer, Stadtplaner und Co. Schon Hundertwasser rief die Bewohner auf, sich aus dem Fenster zu lehnen und die Außenwände ihrer Wohnung selbst zu gestalten. Super! Und ich würde zusätzlich die Passanten auffordern, die Erdgeschoss-Bereiche – so weit die Arme reichen – mitzugestalten.
Sören Hühnlein, 2023
