Das damals rußbedeckte Haus steht, heute in neuer Farbenpracht, in einer Querstraße der Aroser Allee unweit des Schäfersees. Ein Jahr lang lebte ich mit meinem besten Freund in dieser Wohnung, deren besondere Qualitäten aus einem viel zu weichen Holzboden und den dröhnenden Flugzeugen der Einflugschneise Tegels bestanden. Uns Dorfkindern erschien es revolutionär, fast schon vermessen, dass alle 20 Minuten ein Bus der Linie 120 unmittelbar vor unserem Haus fuhr. So kamen wir gar nicht erst auf die Idee, die 15 Minuten Fußweg zur U-Bahnhaltestelle Franz-Neumann-Platz auf uns zu nehmen. Der Bus fuhr uns mit ungleichmäßiger Verlässlichkeit zum Leopoldplatz und von dort zurück in unsere Wohnung. Während dieser kurzen Fahrt, habe ich die grünen Ausläufer des Schillerparks stets als eine Art Zwischenraum wahrgenommen, eine Schwelle zur pulsierenden Müllerstraße einerseits und zu meiner ruhigen Wohnstraße andererseits.

Erst als ich begann, mich im Rahmen meines Studiums mit den Siedlungen der Berliner Moderne auseinanderzusetzen, Jahre nachdem ich in dieser Wohnung lebte, wurde ich auf die für mich unSICHTBAREN Orte, die mich in unmittelbarer Nachbarschaft umgaben, aufmerksam. Meine Wohnung lag zwischen zwei dieser Weltkulturerbe-Siedlungen: der Weißen Stadt und der Siedlung Schillerpark. Zweitere lag sogar auf der Route meiner täglichen Busfahrt …
Eine Gesamtbetrachtung der von 1924-1930 durch Bruno Taut erbauten und von 1953-1957 von Hans Hoffmann erweiterten Siedlung würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen. Wer mehr über die Geschichte und Struktur der „Roten Bonzenburg“ erfahren möchte, sollte einen Besuch unseres Stadtspazierganges zu diesem Thema erwägen.

Mir geht es an dieser Stelle um Details, die mich bei jedem Besuch in dieser Wohnanlage auf ein Neues faszinieren. Bruno Taut führt im Rahmen seiner Entwürfe die Materialität als Konstruktions- und Schmuckelement gleichermaßen ein. Er verzichtet an vielen Stellen auf Putz und verhilft so dem konventionellen Baustoff Backstein zu einer neuen Autonomie. Das Zurschaustellen der entkleideten Fassade wird in dieser Siedlung zelebriert, dabei liegt insbesondere in der Variation der Fassadenstruktur der optische Reiz. So führt Taut durch die unterschiedlichen Loggien, die variierenden Fenster und die bebänderten Bauteile das ästhetische Potenzial des Neuen Bauens vor. Eine meiner Meinung nach besonders eindrückliche Setzung, da die einfache Materialität den Kern dieser Architektur bildet und so reich geschmückte Schauseiten der historistischen Wohnhäuser ad absurdum führt. In diesem Kontext erscheinen mir die expressionistischen Eisenbetonstützen besonders augenfällig, sie gliedern die horizontal gelagerten Gebäude in ihrer Vertikalen und verleihen den kubischen Bauwerken eine fast schon filigrane Wirkung. Dieser Bruch mit der kubischen Strenge, das Spiel mit stilistischen Einflüssen und der Variationsreichtum der Fassaden bilden ein Spannungsfeld in dieser vermeintlich homogenen Siedlungsstruktur.

Ein letzter Aspekt, den ich nicht ungenannt lassen möchte, ist die Taut’sche Idee eines sogenannten „Außenwohnraumes“. Dieser umfasst die Grünflächen genauso, wie die – und das wird hier erneut fast schon ikonisch vorgeführt – privaten Außenflächen, also die Loggien und Balkone. Das zeigt sich insbesondere in den Loggien, die aus der Wohnfläche herausgeschnitten sind und einen Teil des Baukörpers darstellen. Taut führt dies außerdem in der Variation der Balkon- und Loggienzuschnitte vor, die prägender Bestandteil der Außenwirkung der Siedlung sind und damit die Bedeutung des Konzeptes unterstreichen. Optisch finden hier die Ideale eines neuen sozialen Bauens, der Wunsch nach „Licht, Luft und Sonne“ und ein neuartiges Konzept von Freizeit auch für die arbeitenden Klassen eine erste Entsprechung.
Ich lade euch ein, den 120er in die Siedlung Schillerpark zu nehmen und all die weiteren Besonderheiten dieses unSICHTBAREN Ortes zu entdecken.

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