Bis 1843 wurde in mehreren Abschnitten die Schienenverbindung zwischen Berlin und Stettin für den Personen- und Güterverkehr eröffnet. Den ersten Bahnhofskomplex ersetzte bis 1876 ein Neubau, in nachfolgenden Jahrzehnten umgebaut und erweitert. Schließlich eröffnete 1897 der Vorortverkehr nach Bernau, wovon der noch heute stehende zweigeschossige gelbe Ziegelverblendbau an der Julie-Wolfthorn-/Ecke Caroline-Michaelis-Straße kündet.
Von hier aus startete am 8. August 1924 die erste elektrisch betriebene S-Bahn. Mit Eröffnung der Nordsüdbahn 1936 erfolgte die Stilllegung des Vorortbahnhofs, letzter Zeuge Berliner Nah- und Fernverkehrsgeschichte an diesem Ort.
Stettin wurde auf Drängen Stalins Polen zugeschlagen, obwohl es westlich der Oder lag und deutsch hätte bleiben sollen. Die junge DDR tilgte den Bahnhofsnamen. Nordbahnhof stimmte ja von der Himmelsrichtung. Szczeciner Bahnhof kam nicht in Frage.
Und doch gibt es noch Möglichkeiten, in längst vergangene Zeiten einzutauchen: über die Literatur. Angefangen mit meinem Lieblingserzähler Hans Fallada (eigentlich Rudolf Ditzen), der den Bahnhof sehr gut kannte. Die Familie Ditzen vereiste in seinen Kindertagen vom „Stettiner“ an die Ostsee, mit viel Gepäck, worunter auch Bettzeug gehörte. Das Auftreiben einer entsprechend großen Droschke und die Ankunft am und Abfahrt vom Fernbahnhof beschrieb er in „Damals bei uns daheim“. Der „Stettiner“ bildete auch den Dreh- und Angelpunkt in einem Manuskript, das posthum als Buch erschien: Ein Mann will nach oben. Karl Siebrecht kommt 1909 als 16-Jähriger hier an, arbeitet als Gepäckträger und gründet die Berliner Gepäckbeförderung, deren Hauptplatz der Bahnhof wird. Das Büro befindet sich nach dem Umzug seiner Familie in der Eichendorffstraße direkt gegenüber. Und selbst der Protagonist Pinneberg aus „Kleiner Mann, was nun?“ kommt hier mit seinem Lämmchen an, von seiner Mutter abgeholt.
Auch Alfred Döblin griff auf den Bahnhof an der Invalidenstraße in seinem bedeutenden Großstadtroman „Berlin Alexanderplatz“ zurück: Franz Biberkopfs „Mieze“, aus Bernau stammend, entsteigt hier den Vorortzügen, bis Biberkopf selbst, die Hauptfigur, am Ende des Romans aus der Irrenanstalt Buch entlassen hier wieder ankommt.
„Damals wohnten wir noch allein in einer Wohnung der Gartenstraße, am Stettiner Bahnhof, im Armutsviertel, dicht bei der Invalidenstraße (…)“, heißt es bei Georg Fink im ebenfalls 1929 erschienen Roman „Mich hungert“. Nur drei Jahre später entführt uns Ernst Haffners Cliquenroman „Blutsbrüder“ in die nähere Nachbarschaft des Bahnhofsquartiers. Die beiden letzteren Bücher sind Wiederentdeckungen des letzten Jahrzehnts, kurzum: genug Lesestoff für den kommenden Sommer …
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