An einem der wenigen beständigen Sonnentage des Monats Mai schwinge ich mich auf mein etwas mitgenommenes Fahrrad (der Regen der letzten Wochen hat der Fahrradkette übel mitgespielt …) und mache mich auf den Weg in ein mir völlig unbekanntes Randgebiet Berlins.
Lichterfelde gehört zum Bezirk Steglitz-Zehlendorf. Die Bebauung des Stadtteils ist eklektizistisch und lanciert zwischen altehrwürdiger Villenkolonie und den aufragenden Plattenbauten der Thermometersiedlung in Lichterfelde Süd. Wie an so manchen Orten der Hauptstadt prallen hier auf engem Raum diverse soziale Wirklichkeiten aufeinander, die sich zu einer spannenden, aber schwierig zu fassenden, Melange verbinden.
Eine der größten Herausforderungen Berlins ist zweifelsohne die zunehmende Verschärfung der Wohnungssituation und die damit verbundene Perspektivlosigkeit für Menschen mit geringen Einkommen. Während politische Instrumente bislang keinen Effekt zeigten, versucht nun eine selbstorganisierte Initiative große Wohnungsunternehmen zu enteignen. Das Thema ist derzeit omnipräsent in den sozialen Medien, auf den Straßen der Stadt und in den Kolumnen der regionalen und überregionalen Blätter. Während alle einhellig feststellen, dass die Mietsituation unerträglich ist, wird die Diskussion um die richtigen Konzepte, mit denen dem Problem zu begegnen ist, leidenschaftlich geführt. Klar ist, in Berlin muss mehr gebaut werden, die Bestandswohnungen reichen bei weitem nicht aus.
In Lichterfelde Süd wird gebaut. Die Groth Gruppe plant seit einiger Zeit Wohnraum auf einer Brache vis à vis des S-Bahnhofs. – Nachverdichtung des Berliner Stadtraums ist hierbei das Stichwort – Wohnraum an den Rändern der Stadt ein anderes.
Unweit der Thermometersiedlung entsteht so ein neuer Wohnkomplex. Ihn zeichnet ein spezifischer Aspekt aus: er ist bedürfnisgerecht. Er orientiert sich nämlich unmittelbar an den unternehmerischen Bedürfnissen der Groth Gruppe: Rendite durch Einfamilienhäuser und hochpreisige Apartments. Damit reiht sich dieses Bauvorhaben in eine lange Liste von Projekten ein, die in den letzten Jahren Berlins Stadtentwicklung prägten. An dieser Stelle sei beispielhaft an den Komplex in der Oranienburger Straße (am ehem. Tacheles) und an die Europacity erinnert.
Das Lichterfelder-Projekt ist aus vielerlei Hinsicht kritikwürdig, es versiegelt die Fläche und nimmt eine weitere Möglichkeit, um sozialen Wohnraum in größerem Maßstab zu realisieren, es geht an der sozialen Wirklichkeit des Stadtteils vorbei und zementiert bestehende Ungerechtigkeiten.
An Absurdität und Zynismus jedoch kaum zu übertreffen ist die Ortswahl. Bei meiner Fahrradtour entdecke ich einige verwitterte Baracken aus rotem Ziegelstein, unscheinbar stehen sie in der Märkischen Brache und verschweigen ihre menschenverachtende Bestimmung. Sie sind die Relikte eines ehemaligen Kriegsgefangenenlagers, dem Stalag III D.
Bei dem Gelände in Lichterfelde Süd handelte es sich um ein Verwahrlager für vornehmlich französische Internierte und zugleich um eine bedeutende Stätte für die Gesamtorganisation des Gefangenenwesens in Berlin. Das Barackenlager wurde Anfang der 1940er Jahre auf dem Reichsbahngelände errichtet und durch die Wehrmacht organisiert. Heute noch erhalten sind die Steinbaracken, welche Versorgungsfunktionen erfüllten und zur Beherbergung der Landesschützenbataillone, die das Lager bewachten, dienten.
Das Kriegsgefangenenwesen prägte in den 1940er Jahren das Berliner Stadtbild, zahlreiche dezentrale Barackenlager befanden sich im Stadtraum, Sonderzüge brachten die Internierten zu ihren Einsatzorten und in vielen Privathaushalten wurden Gefangene beschäftigt. Während auf die französischen Menschen die Genfer Konvention Anwendung fand, waren die sowjetischen Gefangenen schutzlos gewalttätigen Übergriffen, übermäßig harten Tätigkeiten und drakonischen Strafen ausgeliefert.
Dem Stalag III D als einzigem zentralen Arbeitslager in einer deutschen Großstadt fällt eine wichtige Erinnerungsfunktion zu, vor allem da es, ähnlich der Gesamtthematik, in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwand.
Es ist lediglich der Arbeit engagierter Bürger:inneninitiativen zu verdanken, dass überhaupt eine erinnerungspolitische Aufarbeitung des ehemaligen Gefangenenlagers etabliert wird. Neben einer Ausstellung sollen zukünftig Führungen angeboten werden, in einem zentralen Bereich der Siedlung wird es ein Modell des Lagers geben. Der Denkmalschutz stellte inzwischen zwei Baracken und ein Wachturmfundament unter Schutz und verhinderte so den geplanten Abriss aller Strukturen durch die Groth Gruppe. Klar ist jedoch, das Gelände wird durch die neue Wohnarchitektur überformt und stumpft ab.
Hier, am Rande Lichterfelde Süds, konkurrieren die politische Staatsräson, an die Verbrechen der Nationalsozialist:innen in angemessener Form mahnend zu erinnern, mit dem Grundrecht auf Wohnen. Es wäre ein versöhnlicher Kompromiss, wenn sozialer Wohnungsbau und die Relikte des Stalag III D in Koexistenz miteinander verwoben würden. Stattdessen jedoch rückt die Planung den ökonomischen Vorteil einzelner Akteur:innen in den Mittelpunkt. Nach Informationen der taz werden deutlich unter 20% der entstehenden Wohnungen und Reihenhäuser nach Maßstäben des sozialen Wohnens bepreist.
In Lichterfelde Süd entfernt sich Berlin so ein weiteres schmerzhaftes Stück von der Maxime einer offenen Stadt. Dank gebührt an dieser Stelle all jenen, die unermüdlich für den Erhalt der historischen Quellen und für ein soziales Berlin kämpf(t)en!
Kommentare (3)