Am Nollendorfplatz 2 lag Jahrzehnte ein Grundstück brach. Das im Zweiten Weltkrieg zerstörte Gebäude wird nicht nachgebaut, sondern durch einen kleinen Hochhauskomplex ersetzt, in der Höhe ähnlich den beiden, die auf der anderen Seite der U-Bahnstation stehen. Und weil es ja hier in der Gegend praktisch „keine“ Übernachtungsmöglichkeiten gibt, wird der Zehngeschosser ein Hotel mit 85 Apartments. Aber, liebe Touristen und Gäste, Geduld: erst 2018 ist Eröffnung. Derzeit ist aber das aktuellste Berliner Bauthema der Neubau von Wohnungen. Hotels gibt es 779 (2015 noch 803, aber einige kleinere Hotels und Pensionen schlossen), die Auslastung liegt bei 60 Prozent. Da sind weitere von Nöten, 30 neue sollen in Bälde entstehen. Hotelhumor ist, wenn wir trotzdem lachen?
Dass Erich Kästner 1929 ein Hotel Kreid in seinen berühmten Kinderbucherstling „Emil und die Detektive“ einbezieht, wollen wir gerade deshalb nicht unerwähnt lassen, weil es das heute immer noch gibt! Der damalige Besitzer Heinrich Münch war ein Landsmann von Kästner, denn er stammte auch aus Dresden. Daher der Name „Hotel Sachsenhof“ in der Motzstraße 7! Aber es sei für sein Hotel keine Empfehlung, wenn man erführe, das darin „solche“ Leute (wie der Dieb Grundeis, den Emil und seine Detektive schließlich überführen) übernachten. Das sah Kästner ein und nennt es um. An der Fassade des „Sachsenhof“ erinnert eine Gedenktafel an die Schriftstellerkollegin Else Lasker-Schüler, die von 1924 bis 1933 hier wohnte, dann flüchtete sie als Jüdin aus Deutschland. Kästner selbst hatte 1927 anderthalb Kilometer entfernt in der Prager Straße 17 (heute 6-10) seine erste Berliner Adresse – als Untermieter bei einer Witwe.
Als Theaterkorrespondent einer Leipziger Zeitung interessierte er sich auch brennend für die im selben Jahr am Nollendorfplatz eröffnete Piscator-Bühne, nur ein paar Schritte vom „Sachsenhof“ entfernt. Eine Gedenktafel am ehemaligen „Neuen Schauspielhaus“ erinnert an Erwin Piscators Avantgardetheater. Der Neu-Berliner Kästner greift auf seine Ortskenntnisse zwischen seinem Zuhause und dem Nollendorfplatz zurück und lässt in diesem Koordinatensystem seine Figuren aus dem „Emil“ agieren. Durch den großen Torbogen neben der Piscator-Gedenktafel verschwand die Kinderschar, nachdem der Dieb im Hotel Kreid/Sachsenhof abgestiegen war.
Gleich um zwei Ecken wohnte nur unwesentlich später der Engländer Christopher Isherwood, dem die Schwulenszene um den Nollendorfplatz genau der richtige Ort schien, um seine Homosexualität weiter zu erkunden. Hier klaubte er auch jenen Stoff, der später in den USA als Vorlage für das mit dem Tony Award prämierte Brodway-Musical „Cabaret“ diente und ebenso erfolgreich verfilmt wurde (acht Oscars). Die metallene Gedenktafel in der Nollendorfstraße 17 erinnert seit 1985 daran, nur stimmt das Datum des Einzugs nicht, denn der war erst im Dezember 1930. Zu diesem Zeitpunkt hatte die öffentlichkeitsscheue Nelly Sachs mit ihrer Lyrik schon ihre ersten Erfolge. Auch sie musste in der NS-Zeit als Jüdin – wie Else Lasker-Schüler – aus Berlin flüchten. Isherwood, den der Nationalsozialismus ebenso aus der Stadt vertrieb, wusste und ahnte in jener Zeit sicher nicht, dass die in der benachbarten Maaßenstraße 12 geborene Nelly Sachs 1966 den Literaturnobelpreis bekommen würde. In der touristisch gut frequentierten Maaßenstraße mit ihren zahlreichen gastronomischen Außenbereichen nehmen viele diesen Aspekt erst war, wenn wir einmal bei einer Stadtführung auf die Gedenktafel für die Ehrenbürgerin Nelly Sachs hinweisen.
Neben der schreibenden Zunft wohnten auch bildende Künstler am Nollendorfplatz. Max Beckmann gehörte kurzzeitig dazu. Er wohnte in der Nr. 6 links neben dem ehemaligen Theater, an dem immer noch der Schriftzug des schon lange geschlossenen „Goya“ hängt, als der Maler sich der Berliner Sezession anschloss. Die letzten 30 Jahre bis zu seinem Tod 1931 war der bedeutende Großstadtmaler Lesser Ury am Nollendorfplatz 1 zu Hause (auch hier ist die Gedenktafel mit „von 1920“ ungenau). Das Wohnhaus, in dem sich auch sein Atelier befand, aus dem er direkt auf den mächtig überkuppelten U-Bahnhof schauen konnte und ihn auch in einer nächtlichen Gemäldeszene festhielt, ist im Zweiten Weltkrieg zerstört worden. Deshalb wurde die Gedenktafel für Ury am U-Bahnhof rechts vom Ausgang zur Karl-Heinrich-Ulrichs-Straße (übrigens benannt nach einem Vorkämpfer der homosexuellen Bewegung) angebracht.
Zwei Spaziergänge zum Thema
Wer noch mehr wissen will, komme zu unseren Spaziergängen, die zum oder um den Nollendorfplatz führen:
Freitag, 26. August um 18:00 Uhr
„Mit solchen Straßen bin ich gut bekannt ...“ Erich Kästner in Berlin [Nähere Informationen hier]
Sonnabend, 27. August 2016 um 21:00 Uhr
Life was a Cabaret? Ein literarischer Nachtspaziergang [Nähere Informationen hier]
Wer die Stadtführungen verpasst hat: Schreibt uns eine E-Mail (am besten gleich mit Terminwunsch).
Diese Stadtspaziergänge führen wir auch für Gruppen durch. Sie sind nicht nur ideal für Literaturinteressierte, sondern auch als Ergänzung zum Schulunterricht. [Anfrage hier]
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