Ein sonniger Morgen im April, 10.00Uhr. Ich mache mich auf den Weg. Wohin zuerst ? Ich nehme den ersten Bus, der kommt.
M29. Kurfürstendamm Ecke Uhlandstraße. Dort stehe ich manchmal mit Tour-Teilnehmern und muss sehr laut reden, damit mich alle verstehen. Jetzt ist die Ecke menschenleer. So habe ich den Kurfürstendamm tagsüber noch nie gesehen.
Am Checkpoint Charlie steige ich aus (Foto 2: Checkpoint Charlie). Unwillkürlich denke ich an ein Zitat, das ich einmal in einer großen deutschen Zeitung las: „Achtung! Sie betreten den touristischsten Sektor“. An diesem Morgen im April ist dort, wo sonst Reisebusse die Straße verstopfen und sich fotografierende Fußgänger gegenseitig auf die Füße treten, nichts los. Gar nichts. Ich bin ganz alleine. Plötzlich fühle ich die Geschichte des Ortes ganz nah. Macht das die Leere, die gerade so irreal und surreal ist? Ein Radfahrer kommt mir entgegen. Weit hinten in der Friedrichstraße höre ich Autos. Ich steige in die U Bahn und fahre bis zum Alexanderplatz. Was erwartet mich dort? Ganz langsam gehe ich den Bahnsteig entlang zum Ausgang. Treppe hoch. Die Sonne blendet. Knallblauer Himmel.
Wo sonst Tausende über den Platz laufen, verliert sich die Handvoll Menschen die ich sehe. Keine Schülergruppen auf Klassenfahrt in Berlin bevölkern den Alexanderplatz Platz. Ich vermisse sie plötzlich. Ihr Gekicher, ihr Geschrei, das abrupte Stehenbleiben wenn ihr Handy klingelt. Und ich vermisse auch den jungen Mann, der Hare-Krishna singend, manchmal den Platz umrundet. Diese Leere macht mich traurig. (siehe oben: einsames Rad auf leerem Alexanderplatz)
Dabei mag ich den Alex gar nicht. Ich finde ihn zu groß, zu laut, zu unpersönlich. Aber jetzt? Ich will mich auf eine der steinernen Bänke setzen. „Aber Sie wissen, dass Sie Abstand halten müssen“?, sagt der alte Herr und schaut mich böse an. Ich antworte nichts und gehe weiter. Einmal um den ganzen Platz. Bleibe unter der Weltzeituhr stehen, so wie es normalerweise alle machen, die zum Alex kommen. Ich fühle mich allein.
Weiter zum Hackeschen Markt. Nichts los. Nur zwei Arbeiter und ich sind unterwegs. Wir winken uns zu, rufen „Bleib gesund“. Das macht man jetzt in Corona Zeiten. In der Rosenthaler Straße gehe ich auf den Hof vom Haus Schwarzenberg, der mich immer wieder beeindruckt. Obwohl es hier manchmal vor lauter Menschen bedrückend eng ist. Bedrückend die Einsamkeit des Ortes heute, fast gespenstisch wirkt alles.
Die Graffitis überall an den Wänden, die ich so mag, weil sie jedes Mal anders, spannend, bunt, aggressiv sind, können mich nicht aufheitern. Dabei ist ein Graffiti sehr schön, wie der Blick über die Hausmauer.
Richtung Museumsinsel. Unter der S-Bahn Unterführung sind große Plakate geklebt. Schwarze Schrift auf gelben Grund: „Schwierige Straßen führen oft zu wunderschönen Zielen #stayathome“, steht auf einem Plakat. Auf dem anderen: „Aufgeben ist keine Option #stayathome“. Ganz in der Nähe wurde auf ein Fenster dieses Zitat gemalt.
Wann habe ich die Museumsinsel ohne Menschen gesehen? Vielleicht einmal? Es war morgens um 5.00 Uhr, auf dem Weg von einer Feier zurück nach Hause. Damals hat es mir gefallen, heute nicht. Die Museumsinsel menschenleer und doch wunderschön.Fontane fällt mir ein, der einmal schrieb, Zitat: „Alle Kunst belauscht man am besten in ihren ruhigen Momenten. Geht der Lärm erst los, so ist es selbst für das geübteste Ohr sehr schwer, Echtes und Unechtes zu unterscheiden (…)“. Dennoch: die Musiker auf der Brücke, Brautpaare die sich an der Alten Nationalgalerie fotografieren lassen, Menschen die vor Museen Schlange stehen, die vielen unterschiedlichen Sprachfetzen, die unfreundlichen Museumsmitarbeiter ... irgendwie vermisse ich das gerade.
Fahre ich oder laufe ich Richtung Brandenburger Tor und Potsdamer Platz? Der 100er Bus kommt, ich steige ein. Platz ist genug. Die Straße Unter den Linden: leer. Am Reichstag steige ich aus, laufe ein Stück durch den Tiergarten. Ganz deutlich kann ich jetzt die Vögel hören. Keine störenden Autogeräusche. Vor dem Brandenburger Tor gähnende Leere. Ein einsamer Rikscha-Fahrer wartet auf Touristen. Ich muss schmunzeln und denke: vergebene Liebesmüh. Am Holocaustmahnmal steht eine Security-Mitarbeiterin. Sie lächelt und sagt: ist langweilig, keiner da ... Wir halten Abstand.
Mehr Tauben als Menschen sind auf dem Potsdamer Platz. Vor ein paar Wochen sah es hier ganz anders aus. Vor dem Musicaltheater lag der rote Teppich. Es war Berlinale-Zeit. Jeden Tag war ich dort, habe bei der Berlinale gearbeitet, saß in übervollen Kinos. Ein Gedanke rast durch den Kopf: hatte vielleicht einer der vielen Kollegen aus aller Welt, den Virus? Bloß keine Panik.
Ganz in Ruhe kann ich mir jetzt die Architektur des Platzes anschauen und finde graphische Muster, die ich vorher noch nie wahrgenommen habe, nämlich an der Treppe hinunter zur S-Bahn.
Befremdende Orte.
Marianne Mielke, Rundgangsleiterin bei StattReisen Berlin, bald wieder auf zahlreichen Rundgängen mit Ihnen unterwegs (Literarische Spaziergänge, Spree-Chicago, Kiezspaziergänge in Charlottenburg u.v.a.m.).
Kommentare (0)
Keine Kommentare gefunden!